Als Kinder fürchteten wir uns sehr vor Opa Yongai. Nicht dass er jemals etwas Böses zu uns gesagt hätte, überhaupt erhob er niemals seine Stimme, lächelte stattdessen freundlich wenn wir an seiner Hütte vorüberhuschten. Er saß bei Tag und Nacht auf seiner Veranda, wo er aß, im Sitzen schlief, Geschichten erzählte und schließlich starb. Manchmal hob er langsam die Hand und winkte uns zu, doch ich sollte elf Jahre alt werden, bis ich mich zum ersten Mal in seine Nähe traute.
Es waren die Vögel, vor denen ich mich am meisten fürchtete. Ständig flatterten und piepsten sie rund um Opa Yongais Kopf, besonders wenn gerade junge Regendommler geschlüpft waren. Sie schissen auf die Veranda, auf die Kleider meines Großvaters, auf sein verfilztes Haar.
Sie schleppten in ihren Schnäbeln lebende und tote Würmer heran, um ihre Jungen damit zu füttern. Und Opa Yongai bewegte sich nie, er war wie ein Baum mit einer mächtigen, wirren, grauhaarigen Krone.
„Warum brüten die Vögel in Opa Yongais Haar?“, fragte ich meine Mutter häufig.
„Das musst du ihn schon selber fragen“, antwortete sie stets.
Und mit elf Jahren traute ich mich endlich.
Zwischen seinen schwarzen, vollen Lippen steckte eine Marihuanazigarette, so gelb wie seine Zähne, die kreuz und quer in der dunklen Mundhöhle wuchsen, aber noch vollständig erhalten waren. „Die Vögel!“, kicherte er kindisch. „Ja, ja, die Vögel.“ Er spitzte die Lippen um mir anzudeuten, dass er mir ein Geheimnis verraten würde. „Das liegt, wie so vieles in meinem Leben“, flüsterte er, „an meiner unglaublichen Fruchtbarkeit.“
Ich machte große Augen.
„Setz dich zu mir, mein Junge. Dann werde ich dir die ganze Geschichte erzählen.“
Zögernd ließ ich mich auf dem alten Schemel nieder, der für Besucher bereitstand. Ich achtete allerdings darauf, Opa Yongai und seinen Regendommlern nicht allzu nahe zu kommen.
„Ich war damals etwa so alt wie du“, begann mein Großvater, nachdem er einen tiefen Zug genommen hatte. „Es muss also mindestens 120 Jahre her sein. Unser Dorf war damals viel kleiner und bei weitem nicht so modern. Es waren jene Zeiten, als die Ahnen noch mächtig waren, als wir nur wenig über den Islam wussten – und dennoch fromm waren.“
Er unterbrach seine Rede um Allah zu preisen, den er auf eine äußerst individuelle Art verehrte.
„Im Gegensatz zu dir“, fuhr er fort und zwinkerte, „war ich ein schwächlicher Knabe. In meiner Altersklasse war ich nicht nur der Kleinste und Dünnste, sondern auch bei weitem der Ängstlichste. Selbst vor einem Regendommler fürchtete ich mich, wenn er meinen Kopf umschwirrte! Stell dir das einmal vor!
Ich war ein Bild des Jammers – vor allem für meine arme Mutter, denn sie hatte neben sieben Töchtern nur mich als einzigen Sohn. Was hat sie nicht alles versucht, um einen starken Jungen aus mir zu machen! Mein Hals, die Hand- und Fußgelenke waren so üppig mit Amuletten behangen, dass ich mir einen merkwürdig schleppenden Gang zulegte, da mich die schweren Figuren fast in die Knie zwangen. Ich litt häufig unter Auszehrung und kein Heiler konnte mir helfen. Ein mächtiger Feind musste mir all diese Krankheiten auf den Leib hexen!
Besonders schlimm wurde es immer dann, wenn man mir den Kopf schor. Jedes einzelne verlorene Haar, so kam es mir vor, fügte mir höllische Schmerzen und schweres Fieber zu. Tagelang dämmerte ich vor mich hin, geschüttelt vom Frost, verfolgt von furchtbaren Träumen.
In einem solchen Zustand, mehr tot als lebendig, zog mich meine Mutter eines Tages aus der Hütte und schleppte mich ins Nachbardorf. Dort gab es einen Wahrsager, von dem man glaubte, er könne das ganze Leben eines Kindes aus einer Hand voll Kaurimuscheln lesen. Warum wir ihn nicht schon früher aufgesucht hatten? Ganz einfach: Er war nicht eben billig. Er war, ehrlich gesagt, sogar der teuerste Wahrsager, dem ich in meinen 131 Lebensjahren begegnet bin, so teuer, dass meine Mutter den Brautpreis von vier meiner sieben Schwestern dafür ausgeben musste, damit er mir meine Zukunft voraussagte. Da siehst du, mein Junge, wie groß die Liebe meiner Mutter war. Allah möge sie preisen!“
Opa Yongai gab sich seinen Erinnerungen hin und erst als ich schon glaubte, er sei eingeschlafen, erzählte er mit unheilschwangerer Stimme weiter.
„Fanon, der Wahrsager, war eine Furcht einflößende Person. Sein linkes Auge war blind, doch er konnte so beweglich damit rollen, dass nur noch das Weiße zu sehen war, während das rechte Auge völlig stillstand und gelangweilt auf das Säckchen mit den Kaurimuscheln starrte.
Das Erste, was Fanon tat, nachdem wir gezahlt hatten, war, meine Mutter vor die Tür zu schicken. Er verscheuchte sie wie eine lästige Fliege.
‚Wenn ein Mann aus dem Leben eines Mannes liest’, sagte er, ‚können Frauen schlimmes Unheil anrichten.’
Er warf seine Muscheln auf den Boden und betrachtete sie so ratlos, dass ich mich schon fragte, ob mein Fall völlig hoffnungslos sei, als plötzlich ein Geistesblitz seine Züge erhellte. Er begann zu singen und seine Stimme klang sehr heiser dabei. Schließlich strahlte er und schnalzte zufrieden mit den Fingern.
‚Gib mir ein Haar!’, befahl er ungeduldig.
Ich erschrak. Selbstverständlich wusste ich, wie viel Schaden ein Zauberer mit Haaren oder Fingernägeln anrichten konnte. Außerdem hatte mir meine Mutter erst vor drei Tagen den Kopf geschoren – es gab also nichts auszureißen.
‚Nicht vom Kopf!’, rief der Wahrsager. ‚Wenn du am Schwanz noch keine hast, dann gib mir eine Wimper!’
Es tat weh, als ich sie mir ausriss, doch das freudige Geheul des Wahrsagers machte den Schmerz wieder wett.
‚Du Glückspilz!’, brüllte er, nachdem er die Wimper in eine Schale mit Öl getaucht und danach ins Feuer geworfen hatte, wo sie stinkend verschmorte. ‚Siehst du das Leuchten des Feuers?’, rief er begeistert. ‚Die Ahnen lieben dich!’
Das war mir neu. Aber es klang gut.
© Anne Grießer
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